Totgesagte leben länger – der ISDS-Zombie

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Wie die EU-Kommission gefährliche Konzernklagerechte weiterleben lässt

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Kurzfassung

Seit etwa zwei Jahren hält eine kontroverse Debatte über ein bis dato wenig bekanntes Instrument in internationalen Handelsverträgen die europäische Öffentlichkeit, PolitikerInnen und Medien auf Trab: die Debatte über die sogenannten Investor-Staat- Klagerechte (investor-state dispute settlement), kurz ISDS.

Tausende internationale Abkommen enthalten bereits ISDS. Dadurch können ausländische Investoren Regierungen verklagen, wenn diese ihre Politik ändern – beispielsweise zum Schutz der öffentlichen Gesundheit oder der Umwelt – und dadurch Unternehmensgewinne schmälern. Nationale Gerichte werden bei diesen Klagen umgangen; sie finden vor speziellen internationalen Schiedstribunalen statt. Drei private AnwältInnen entscheiden dann darüber, ob Unternehmensprofite oder das öffentliche Interesse wichtiger sind. Weltweit haben solche Schiedsgerichte Unternehmen bereits Steuergelder in Milliardenhöhe als Schadenersatz zugesprochen – oft für Maßnahmen im öffentlichen Interesse.

Mit der Entscheidung, dieses mächtige Rechts­ instrument für Konzerne im Rahmen des geplanten EU-USA Handelsabkommens TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zu verhandeln, trat die Europäische Kommission einen Sturm der Entrüstung los. In einer öffentlichen Konsultation lehnten mehr als 97% der 150.000 Teilnehmenden die privilegierten Konzernklagerechte ab. Auch unter den EU-Mitgliedstaaten und im EU-Parlament gab es Unmut. Die EU-Handels­kommissarin Cecilia Malmström nannte ISDS folglich das „vergiftetste Kürzel in ganz Europa“.

Um dem Widerstand gegen ISDS auszuweichen, hat die Europäische Kommission im Herbst 2015 einen ISDS-Vorschlag unter neuem Namen vorgelegt, den sie in alle derzeit und in Zukunft zu verhandelnden Handels- und Investitionsabkommen der EU hinein verhandeln möchte, darunter auch TTIP. Anstelle des „alten“ ISDS-Systems schlägt die Kommission nun ein „neues“ System vor, das unabhängig sein soll und angeblich das staatliche Recht zu regulieren schützt: das sogenannte Investment Court System (System der Investitionsgerichte) oder ICS.

Die vorliegende Analyse zeigt allerdings, dass das geplante ICS nicht das Ende von ISDS bedeutet – im Gegenteil: Durch ICS würden tausende Unternehmen ermächtigt, unser Rechtssystem zu umgehen und Regierungen vor parallelen Schiedsgerichten zu verklagen, wenn sie ihre Profitmöglichkeiten durch Gesetze und Regulierungen eingeschränkt sehen. Durch den Vorschlag könnten Steuergelder in Milliardenhöhe in die Kassen großer Konzerne fließen und Politik zum Schutz von Mensch und Umwelt untergraben werden. Zudem besteht die Gefahr, dass die EU-Mitgliedstaaten keine Chance mehr hätten, jemals wieder aus dem ungerechten ISDS-System auszusteigen. Sie wären ihm ewig ausgesetzt. Kurz, das geplante „neue” ICS bedeutet nichts anderes als ein scheinbar von den Toten auferstandenes ISDS-System. ICS ist der ISDS-Zombie.

Wichtigste Ergebnisse der Analyse:

1. Die Zahl der Investor-Staat-Klagen und das Ausmaß der Klagesummen sind in den letzten zwei Jahrzehnten regelrecht explodiert: Waren im Jahr 1995 lediglich drei Fälle bekannt, so stieg die Zahl der öffentlich gewordenen Investor- Staat-Klagen im Januar 2016 auf knapp 700. Allein im Jahr 2015 wurden 70 neue Klagen eingereicht – so viele wie nie zuvor. Ebenso dramatisch entwickelten sich die Schadenersatzsummen: In einem Fall wurde ein Staat zu Entschädigungen von grotesk anmutenden 50 Milliarden US- Dollar verurteilt. Große Konzerne und reiche Privatpersonen haben bisher mit Abstand am meisten kassiert.

2. In den letzten 20 Jahren gab es milliardenschwere Investor-Staat-Klagen gegen Gesetze und andere staatliche Maßnahmen im öffentlichen Interesse. Auf allen Kontinenten wurden Länder verklagt wegen Nichtraucherschutzgesetzen, aufgrund von Verboten giftiger Chemikalien, Antidiskriminierungsmaßnahmen, Maßnahmen zur Stabilisierung von Finanzmärkten, Einschränkungen bei umweltschädlichen Bauprojekten und vielem mehr. So hatten 60% der Klagefälle gegen EU-Staaten eine umweltpolitische Dimension. Ein Anwalt, der Staaten in solchen Verfahren vertritt, nannte ihre rechtliche Grundlage, also internationale Investitionsabkommen, „rechtliche Vernichtungswaffen“ („weapons of legal destruction”).

3. ICS, das „neue“ System der EU-Kommission, unterscheidet sich nur marginal vom „alten“ ISDS System – und ist genauso gefährlich für Demokratie, Politik im öffentlichen Interesse und öffentliche Haushalte. Mit Ausnahme einiger prozeduralen Verbesserungen – ein besseres Auswahlverfahren für SchiedsrichterInnen und die Einführung einer Berufungsinstanz – umfasst dieses ISDS unter neuem Namen im Wesentlichen dieselben Privilegien für Investoren, häufig in genau demselben Wortlaut wie beispielsweise im Abkommen zwischen der EU und Singapur.

4. Der neue Entwurf der EU-Kommission ermöglicht weiterhin Konzernklagen gegen nicht-diskriminierende, legale und legitime Maßnahmen zum Schutz von Gesundheit, Umwelt und anderen öffentlichen Interessen. Der ICS-Entwurf enthält dieselben weitreichenden Rechte für Investoren, die auch Konzerne wie Philip Morris (in einer Klage gegen Nichtraucherschutzgesetze in Uruguay) und TransCanada (in einer angekündigten 15 Milliarden US-Dollar-Klage gegen die USA wegen der Ablehnung der umstrittenen Keystone XL- Pipeline) nutzen.

5. Durch den Kommissionsvorschlag könnten Steuergelder in Milliardenhöhe in die Kassen von Konzernen fließen, darunter sogar Entschädigungen für erwartete zukünftige Gewinne (wie in einem Fall gegen Libyen, das zu 905 Millionen US-Dollar Schadenersatz an ein Unternehmen verurteilt wurde, obwohl dieses lediglich 5 Millionen US-Dollar investiert hatte). Auch Entschädigungszahlungen für neue Gesetze und Regulierungen im öffentlichen Interesse wären möglich. Die von der EU vorgeschlagenen Formulierungen zum Schutz der staatlichen Regulierungsfreiheit (right to regulate) verhindern die horrenden Schadenersatzurteile nämlich gerade nicht.

6. Der Kommissionsvorschlag erhöht das Risiko teurer Konzernklagen gegen öffentliche Maßnahmen, da er ausländischen Investoren sogar noch weitergehende Rechte zuerkennt als viele bestehende Investitionsverträge, die ihrerseits bereits zu hunderten Konzernklagen weltweit geführt haben. a) Durch den Schutz der „legitimen Erwartungen“ von Investoren im Rahmen der sogenannten „fairen und gerechten Behandlung” schreibt die EU eine extrem weitgehende und umstrittene Auslegung dieses Schutzstandards fest. Danach haben Investoren quasi ein „Recht“ auf stabile rechtliche Rahmenbedingungen. Das wäre eine mächtige Waffe für Investoren, die damit gegen jegliche rechtliche Veränderung vorgehen könnten, selbst wenn diese Änderungen im Lichte neuer Erkenntnisse oder als Ergebnis demokratischer Entscheidungen erfolgen.
b) Die von der EU vorgeschlagene Schirmklausel (umbrella clause) würde allen schriftlichen Verträgen im Zusammenhang mit einer Investition einen völkerrechtlichen Status verleihen. Das vervielfacht das Risiko teurer Klagen. Das EU-Kanada-Abkommen CETA enthält keine solche Schirmklausel, vermutlich, weil Kanada sie als zu gefährlich abgelehnt hat.

7. Wird TTIP mit dem geplanten Investoren­ schutz abgeschlossen, steigen Haftungs- und finanzielle Risiken für die EU-Mitgliedstaaten exorbitant – weit über das Niveau bestehender Verträge hinaus: So könnten durch TTIP 19 weitere EU-Mitgliedstaaten direkt von US-Investoren verklagt werden (zusätzlich zu 9 Mitgliedstaaten, die bereits Investitionsverträge mit den USA abgeschlossen haben). Weitere 99% der US-Investitionen in der EU würden durch ein TTIP mit Investitionsschutz abgedeckt (durch bestehende Verträge sind derzeit gerade einmal 1% abgedeckt). Zusätzliche 47.000 Unternehmen hätten plötzlich die Möglichkeit, direkt gegen EU-Mitgliedstaaten zu klagen (heute sind es erst 4.500). Rund 900 neue US-Konzernklagen gegen EU-Mitgliedstaaten könnten die Folgen sein (derzeit gibt es lediglich 9 bekannte Klagefälle auf Basis bestehender Verträge).

8. Durch den Kommissionsvorschlag könnten transnationale Konzerne sogar ihre eigene Regierung verklagen – wenn sie ihre Investition über eine Niederlassung im Ausland tätigen oder ein ausländischer Teilhaber klagt. Angesichts des enormen Volumens der durch US-Unternehmen gehaltenen Anteile an Unternehmen in der EU – 3,5 Billionen US-Dollar – wäre dieses Risiko unter TTIP besonders groß. Es gibt kaum ein „europäisches“ Unternehmen ohne irgendeine US-Beteiligung, das nicht zu einer Klage gegen die EU oder einen Mitgliedstaat befugt wäre. Anreiz, investorenfreundliche Urteile zu fällen, um in Zukunft weitere Aufträge, Honorare und Prestige zu bekommen. Fehlende Karenzzeiten, Schlupflöcher im geplanten Verhaltenskodex für die SchiedsrichterInnen und das bestimmte Personenkreise begünstigende Auswahlverfahren geben ebenfalls Anlass zur Sorge, dass die Schiedsgerichte auch in Zukunft mit genau denselben privaten AnwältInnen besetzt würden, die den teuren Boom der Investitionsschiedsverfahren mit losgetreten haben – indem sie Investoren zu Klagen gegen Staaten ermutigt und das Investitionsrecht äußerst investorenfreundlich ausgelegt haben. 

9. Der geplante Investitionsschutz der EU würde es Konzernen ermöglichen, politische EntscheidungsträgerInnen unter Druck zu setzen und so wünschenswerte politische Initiativen zu verhindern. Schon heute gibt es Belege dafür, dass geplante Gesetze zum Schutz von Klima und Gesundheit wegen einer teuren Konzernklage oder einer Klagedrohung fallen gelassen, aufgeschoben oder verwässert wurden. So haben beispielsweise Kanada und Neuseeland die Einführung von Nichtraucherschutzmaßnahmen aus Angst vor drohenden Konzernklagen verschoben. 12. Anstatt ISDS zu begraben, droht die EU-Agenda zum Investitionsschutz, ISDS für immer festzuschreiben. Den EU-Mitgliedstaaten wäre es faktisch unmöglich, die Investorenprivilegien wieder aufzukündigen, wenn diese einmal Teil eines großen Handelsabkommens wie TTIP oder CETA geworden sind (da sie dafür faktisch die EU verlassen müssten). Der von der Kommission vorgeschlagene multilaterale Investitionsgerichtshof – quasi ein Gericht nur für Konzerne – könnte ebenfalls ein äußerst ungerechtes System verewigen, in dem nur eine Seite (üblicherweise große Konzerne und wohlhabende Privatpersonen) mit weitgehenden einklagbaren Rechten ausgestattet ist, während der anderen Seite (üblicherweise die Bevölkerung eines Landes) ausschließlich Pflichten auferlegt werden.

10. Das von der EU geplante Streitschlichtung­ verfahren ist keinesfalls unabhängig, sondern einseitig zum Vorteil des Investors ausgerichtet. Da lediglich Investoren klagen können, gibt es für die SchiedsrichterInnen (im Entwurf der Kommission zu “RichterInnen” umbenannt) einen starken systemischen Der Versuch der EU, das System der Investor-Staat- Klagerechte massiv auszuweiten und festzuschreiben, kommt zu einem Zeitpunkt, an dem sich immer mehr Menschen des gesamten politischen Spektrums gegen diese juristische Zwangsjacke der Konzerne aussprechen – und an dem immer mehr Regierungen nach Ausstiegsmöglichkeiten suchen.

11. Es gibt ernste Zweifel daran, dass der Entwurf zum Investitionsschutz mit EU- Recht vereinbar ist. Das stößt besonders unter RichterInnen zunehmend auf Bedenken. Der Kommissionsentwurf marginalisiert europäische Gerichte und ist diskriminierend, da lediglich ausländischen Investoren bestimmte Rechte eingeräumt werden. Diese Investoren können Gerichtsurteile genauso anfechten wie Regierungsakte und von Parlamenten verabschiedete Gesetze – von der lokalen bis zur EU-Ebene.

<12. Anstatt ISDS zu begraben, droht die EU-Agenda zum Investitionsschutz, ISDS für immer festzuschreiben. Den EU-Mitgliedstaaten wäre es faktisch unmöglich, die Investorenprivilegien wieder aufzukündigen, wenn diese einmal Teil eines großen Handelsabkommens wie TTIP oder CETA geworden sind (da sie dafür faktisch die EU verlassen müssten). Der von der Kommission vorgeschlagene multilaterale Investitionsgerichtshof – quasi ein Gericht nur für Konzerne – könnte ebenfalls ein äußerst ungerechtes System verewigen, in dem nur eine Seite (üblicherweise große Konzerne und wohlhabende Privatpersonen) mit weitgehenden einklagbaren Rechten ausgestattet ist, während der anderen Seite (üblicherweise die Bevölkerung eines Landes) ausschließlich Pflichten auferlegt werden.

 

Der Versuch der EU, das System der Investor-Staat- Klagerechte massiv auszuweiten und festzuschreiben, kommt zu einem Zeitpunkt, an dem sich immer mehr Menschen des gesamten politischen Spektrums gegen diese juristische Zwangsjacke der Konzerne aussprechen – und an dem immer mehr Regierungen nach Ausstiegsmöglichkeiten suchen.

Diese Studie endet mit der Aufforderung, gegen diese Investor-Staat-Klagen zu handeln: durch die Aufkündigung aller bestehenden Verträge, die es Konzernen ermöglichen, vor internationalen Schiedsgerichten zu klagen, wenn Gesetze und Regulierungen ihre Profitmöglichkeiten einschränken. Und auch durch die Verhinderung weiterer de facto Verfassungen für Konzerne wie sie für TTIP und CETA vorgesehen sind – sowie aller Arten von Plänen für internationale Gerichte, die ausschließlich Konzernen und reichen Privatpersonen zur Verfügung stünden.