Smoking Guns Wie europäische Waffenexporte Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertreiben
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Der Zusammenhang zwischen Waffenhandel und Vertreibung wird nur selten untersucht, und die Rolle der europäischen Rüstungspolitik, die grobe Menschenrechtsverletzungen in Drittländern begünstigt, wird in Studien zu Vertreibung und Migration oft nicht berücksichtigt. Dieser Bericht stellt die Verbindung zwischen Europas Waffenhandel sowie Vertreibung und Migration her.
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Smoking Guns – How European arms exports are forcing millions from their homes (PDF, 6.19 MB)Average time to read: 60 minutes minutes
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Key findings
- In Europa hergestellte und lizenzierte Waffen und Militärausrüstung, die an Drittländer verkauft werden, tragen zu Vertreibung und Migration bei. Die Motivation für diesen Waffenhandel liegt darin, dass die Branche höchst lukrativ ist und die derzeitigen Kontrollund Überwachungsmechanismen problematische Lizenzvergaben und Exporte eher erleichtern als einschränken.
- Der Waffenhandel ist politisch und profitorientiert, aber nur unzureichend reguliert. Obwohl andere Sektoren wie die Lebensmittel- und die Landwirtschaft das Grundrecht auf Leben und andere Menschenrechte nicht untergraben, wie es beim Waffenhandel der Fall ist, sind sie viel strenger reguliert.
- Es ist möglich, Waffen sowie Militärausrüstung und -technologie vom Ursprungs- und Exportort bis zum letztlichen Einsatzort systematisch zu verfolgen und ihre verheerenden Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung zu dokumentieren. Dieser Bericht bestätigt zweifelsfrei, dass europäische Waffen nicht, wie oft behauptet, zur Verteidigung von Bevölkerungen oder Verbesserung der lokalen oder regionalen Sicherheit eingesetzt werden, sondern stattdessen zur Destabilisierung ganzer Länder und Regionen führen.
- Die Waffenindustrie ist trotz eines vermeintlich robusten Kontrollsystems in klare Verstöße gegen Nichtweitergabeklauseln und Endnutzervereinbarungen (End User Agreements, EUA) verwickelt. Die vorliegende Recherche zeigt, dass es praktisch unmöglich ist, die endgültige Verwendung von Waffen zu kontrollieren, nachdem sie in den Handel gelangt sind, selbst wenn sie später zurückverfolgt werden können. Außerdem dokumentiert der Bericht, dass dokumentiert der Bericht, dass EU-Mitgliedstaaten den Importländern selbst dann weiterhin Waffen und militärische Ausrüstung verkauften, wenn bekannt war, dass sie gegen EUAs verstoßen hatten.
- Unabhängig davon, ob die Waffen an offizielle staatliche Sicherheitskräfte exportiert oder letztlich von nichtstaatlichen bewaffneten Akteuren verwendet wurden und ob die EUAs und andere Kontrollmechanismen eingehalten wurden, war das Ergebnis das gleiche: Europäische Waffen wurden in Militäroperationen genutzt, die zu Destabilisierung führten und Vertreibung und Migration zur Folge hatten. Die durch die von Europa gelieferten Waffen begünstigte Destabilisierung trug dann dazu bei, dass Europa seinen Grenzsicherungsapparat massiv ausbaute, um auf die vermeintliche Bedrohung durch Geflüchtete zu reagieren, die versuchen, nach Europa zu gelangen, um Asyl zu ersuchen.
- Europäische Länder gehören zu den führenden Exporteuren tödlicher Waffen und Waffenkomponenten weltweit und haben seit 2015 rund 26 % der weltweiten Waffenexporte getätigt. Die fünf größten europäischen Waffenexporteure sind Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und das Vereinigte Königreich, auf die zusammen 22 % der weltweiten Waffenexporte im Zeitraum 2016–2020 entfallen.
- Die Waffenexporte aus Bulgarien, Kroatien und Rumänien sind in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen, wobei ein großer Teil in westasiatische Länder geliefert worden ist. Beispielsweise exportierte Kroatien vor 2012 jährlich Munition im Wert von unter 1 Million Euro, seit dem Beginn des Syrienkriegs ist dieser Wert jedoch jährlich gestiegen und erreichte 2016 einen Wert von 82 Millionen Euro. Das Europäische Parlament forderte Bulgarien und Rumänien – bisher ohne Erfolg – dazu auf, Waffenexporte nach Saudi-Arabien und in die USA zu stoppen, wenn die Gefahr besteht, dass diese Waffen umgeleitet werden könnten.
- In Syrien sind schätzungsweise 13 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, und mehr als die Hälfte der Bevölkerung kann nach wie vor nicht in ihre Häuser zurückkehren. Zu ihnen zählen 6,6 Millionen Geflüchtete, die in Nachbarländern wie Jordanien und Libanon leben und versuchen, von dort nach Europa zu fliehen und damit den umgekehrten Weg zu nehmen wie die Waffen, die sie vertrieben haben. Weitere 6,7 Millionen sind Binnenvertriebene (Internally Displaced Persons, IDP) innerhalb Syriens.
Anhand von fünf Fallstudien wird Folgendes dokumentiert:
- Bauteile und Produktionskapazitäten für den italienischen Kampfhubschrauber T-129 ATAK wurden in die Türkei exportiert, wo der Hubschrauber 2018 und 2019 bei zwei Angriffen im Rahmen der „Operation Olivenzweig“ und der „Operation Friedensfrühling“ an der türkisch-syrischen Grenze im nordsyrischen Distrikt Afrin zum Einsatz kam. Nach UN-Angaben wurden zwischen Januar und März 2018 während der Afrin-Offensive 98.000 Menschen und im Oktober 2019 durch die „Operation Friedensfrühling“ weitere 180.000 Menschen (darunter 80.000 Kinder) vertrieben.
- Bulgarien exportierte Raketenrohre und Raketen nach Saudi-Arabien und in die USA, die schließlich in den Irak gelangten. Die Ausrüstung wurde umgeleitet und in Ramadi und der umliegenden Region eingesetzt. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration sind seit April 2015, als die Krise in Ramadi ausbrach, über eine halbe Million Menschen aus der Provinz al-Anbar, deren Hauptstadt Ramadi ist, vertrieben worden, davon zwischen November 2015 und Februar 2016 allein 85.470 aus der Stadt Ramadi. Rund 80 % aller Häuser in Ramadi waren nach der Offensive schwer beschädigt. 2017 wurde in der östlich von Mossul gelegenen Stadt Bartella ein weiteres aus Bulgarien stammendes Raketenrohr gefunden, das von IS-Kämpfern benutzt worden war. Zwischen 2014 und Januar 2017 wurden aus dem Großraum Mossul mindestens 200.000 Angehörige von Minderheiten vertrieben. Im Juli 2019, mehr als zwei Jahre nach dem Ende der Militäroperationen in Mossul, waren immer noch mehr als 300.000 vertriebene Menschen nicht in die Stadt zurückgekehrt.
- Britische, französische und deutsche Bauteile und Produktionskapazitäten, unter anderem für Raketen, Raketenbatterien und ein Bombengestell, wurden in die Türkei exportiert, wo sie auf dort hergestellte Drohnen montiert und nach Aserbaidschan exportiert wurden. Dieselben Drohnen, bestückt mit in Europa hergestellten Waffenkomponenten, kamen in einem 44-tägigen Konflikt in Bergkarabach zum Einsatz, der zur Vertreibung der Hälfte der armenischen Bevölkerung der Region – etwa 90.000 Menschen – führte.
- Zwischen 2012 und 2015 lieferte Bulgarien Sturmgewehre, großkalibrige Artilleriesysteme, leichte Maschinengewehre, und tragbare Unterlauf- und Anbaugranatwerfer an die Polizei und das Militär der Demokratischen Republik Kongo (DRK). Obwohl der Konflikt in der Demokratischen Republik Kongo zu den weltweit längsten zählt, liefert Europa weiterhin Waffen, mit denen regelmäßig schwere Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Im Jahr 2017 exportierte Serbien 920 Sturmgewehre und 114 leichte Maschinengewehre, die ursprünglich in Bulgarien hergestellt worden waren, in die DRK. Im selben Jahr wurden 2.166.000 Menschen vertrieben, was das Jahr zu einem der schlimmsten seit Beginn des Konflikts macht. Konkret waren bulgarische Waffen 2017 in Nord-Kivu im Einsatz, als dort 523.000 Menschen vertrieben wurden.
- Mindestens vier italienische Patrouillenboote der Bigliani-Klasse wurden Libyen gespendet und von der libyschen Küstenwache eingesetzt, um Migrierende, die von der Küste des Landes aus fliehen wollten, gewaltsam zurückzuholen und zu internieren. Im Jahr 2019 montierte die libysche Küstenwache auf mindestens einem dieser Boote ein Maschinengewehr und brachte es im internen Konflikt gegen die Libysch-Nationale Armee (LNA) zum Einsatz. Viele der Menschen, die aus Libyen fliehen wollten, waren höchstwahrscheinlich bereits vor anderen Konflikten in afrikanischen und westasiatischen Ländern geflohen, die möglicherweise europäische Waffen gekauft oder erhalten hatten. Auf diese Weise profitiert die europäische Rüstungsindustrie massiv von jedem Schritt auf dem Weg der Migrierenden, indem sie die Menschen zunächst vertreibt und sie dann später von den Grenzen abschreckt und zurückdrängt.
Zu den Rüstungsunternehmen, die wir in diesen Fallstudien identifiziert haben, gehören Airbus (Frankreich/Deutschland), ARSENAL (Bulgarien), BAE Systems (UK), Baykar Makina (Türkei), EDO MBM (UK), Intermarine (Italien), Kintex (Bulgarien), Leonardo (Italien), Roketsan (Türkei), SB Aerospatiale (Frankreich), TDW (Deutschland), Turkish Aerospace Industry (Türkei) und Vazovski Mashinostroitelni Zavodi ЕAD (Bulgarien).